Steven Spielberg gelingt mit «The Fabelmans» ein Meisterwerk (2024)

In seinem neuen Spielfilm erzählt der populärste Filmemacher Steven Spielberg von seinem eigenen Aufwachsen.

Andreas Scheiner

6 min

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Steven Spielberg gelingt mit «The Fabelmans» ein Meisterwerk (1)

Das Kino muss ein ganz furchtbarer Ort sein. Ein schreckenerregender, ein albtraumhafter Ort. Sammy war noch nie im Kino. Das Kind hat Angst, es will da nicht hin. «It’ll be dark in there!», ruft der Junge aus. Und die Leute in den Filmen, hat er gehört, seien Riesen. Ja, aber doch nur wegen der grossen Leinwand, beruhigt der Vater.

Die Mutter beschwichtigt auch: Kino sei wie träumen, sagt sie. «Dreams are scary!», protestiert Sammy. Manche Träume seien unheimlich, räumt die Mutter ein. Aber nicht diese. Filme seien wie schöne Träume, «die man niemals vergisst».

Also gut. Sammy traut sich, die Fabelmans gehen ins Kino. Sammy, die Mutter Mitzi, der Vater Burt. Und Sammy wird es nicht bereuen. Nach dem Film wird er ein anderer sein. Um nicht zu sagen: Er wird Steven Spielberg sein. Denn in ihm ist danach der Regisseur geweckt.

Meisterhafte Einführung

In «The Fabelmans» fabuliert Spielberg von sich, als er klein war. Sammy Fabelman, das ist er. Der wahrscheinlich erfolgreichste Filmemacher von allen erzählt in seinem neuen Film autobiografisch, aber auch dramaturgisch ausgeschmückt, von seinem Aufwachsen in einer auseinanderfallenden Familie.

Gleich mit der ersten Szene werden die narrativen Bögen aufgespannt. Wie Spielberg im Nu das psychologische Gerüst der Geschichte montiert, ist ein Meisterstück für sich. Die Figuren sind durch zwei, drei Drehbuchstriche plastisch gezeichnet, die schicksalhaften Wendungen werden präzise angedeutet. Die träumerische Mitzi mit dem Bubikopf, eine Hausfrau und verhinderte Konzertpianistin (Michelle Williams), wird später von bösen Träumen heimgesucht, sie glaubt, Stimmen zu hören, wirkt der Realität entrückt.

Daneben der streng rationale Burt (Paul Dano), ein Computerfreak. Er gibt Sammy schnellstens einen Crashkurs in Filmtechnik, um dem Kind die Angst vor dem Kino zu nehmen. Burt erklärt, wie das Gehirn die 24 Bilder pro Sekunde zu einem «motion picture» zusammensetze, wie die Trägheit des Auges das Bewegtbild erst ermögliche. Als Sammy ein paar Jahre später Aufnahmen von einem Campingausflug schneidet, schaut er sich den Filmstreifen verlangsamt an, und es ist in diesem Moment, in dem er die Augenträgheit austrickst, dass er versteht, was in der Familie vor sich geht. Dass sich die Eltern entzweit haben. Mehr will man nicht verraten. Der Punkt ist: Das Sehen über die Kamera öffnet Sammy die Augen.

Steven Spielberg gelingt mit «The Fabelmans» ein Meisterwerk (2)

Mit der Eingangssequenz ist alles angelegt. Sammys erster Kinobesuch führt ihn in «The Greatest Show on Earth». In dem Zirkusfilm von Cecil B.DeMille gibt es ein Zugunglück, es macht grossen Eindruck auf den jungen Zuschauer. Zu Chanukka wünscht der Junge sich anschliessend eine Modelleisenbahn. Mit dieser spielt Sammy den Crash nach. Für das ängstliche Kind geht es um Kontrolle. Wenn es die Züge kollidieren lassen kann, übt es Kontrolle aus.

Jahre später in der Highschool wird ein Mitschüler Sammy einen Joint anbieten. Was so ein Joint mit einem mache, fragt Sammy vorsichtig. Der Joint offenbare, wie wunderbar doch alles ausser Kontrolle sei, sagt der Kiffer. Sammy lehnt ab: «In meinem Kopf ist sowieso schon alles ausser Kontrolle.»

Immer wieder kommt Spielberg auf früh im Film angelegte Motive zurück, darin zeigt sich der gewandte Erzähler. Und wie die Motive ineinandergreifen, entwickelt sich der Film zu einer komplexen Coming-of-Age-Geschichte. Einer viel komplexeren, als man meinen könnte. Von einer Liebeserklärung ans Kino ist in Kritiken die Rede, doch das trifft es nicht. Spielberg wird missverstanden. Tatsächlich geht es ihm in «The Fabelmans» weniger um das Kino. Sondern viel eher um die Kamera.

Einmal wird Sammy in der Schule verprügelt. Man hat ihm die Nase blutig geschlagen. Wenig später sucht Sammy Trost bei seiner Bolex, er hält sich die Schmalfilmkamera nahe vor das Gesicht, Spielberg hat das genial inszeniert: Es sieht aus, als läge die Kamera an Sammys Wange wie eine Kompresse. Eine Kamera kann heilen. Sie kann aber noch viel mehr. Sie ist dem, der sie führt, ein verlängerter Arm, ein zusätzliches Auge: Sie hält Dinge fest, aber gleichzeitig auch auf Distanz. Die Kamera enthüllt, doch zu welchem Preis?

Steven Spielberg gelingt mit «The Fabelmans» ein Meisterwerk (3)

Im Maul des Löwen

Bei Filmmitte kommt Boris zu Besuch, Mitzis leicht verrückter Onkel. Boris (Judd Hirsch) versteht Sammy, der zu diesem Zeitpunkt längst nur noch das Filmemachen im Kopf hat. Genauso wie er, Boris, sei Sammy angefixt von der Kunst. «We’re junkies, and art is our drug.» Boris hat einst seine Familie verlassen, um zum Zirkus zu gehen, wo er Löwen zähmte. Ob es wirklich Kunst sei, seinen Kopf in den Rachen einen Löwen zu stecken, fragt Sammy. Nein, sagt Boris, dem Löwen den Kopf ins Maul zu stecken, «that’s balls», das sei Mut. Nicht vom Löwen gefressen zu werden, «that’s art!»

Er habe sich gegen seine Familie entschieden, obwohl er sie liebe, fügt Boris hinzu. Aber er sei eben verrückt gewesen nach der Kunst. «Family we love, but art... We’re meshugah for art.»

Verrückt nach der Kunst. Das ist der Schlüssel. Nichts geht Spielberg über den Film. Er hat zwar Klassiker der Familienfreundlichkeit wie «E.T.» oder «A.I.» geschaffen, aber «The Fabelmans» zeigt: Hinter der Vorstellung vom Familienfilmer Spielberg steckt mehr. Wenn er in Filmen die Familienwerte hochhielt, dann nicht oder nicht allein deshalb, weil er sich als Scheidungskind ein Familienidyll herbeiphantasierte. Sondern weil er selbst sich für die Kunst entschieden hatte. Kunst kam ihm vor der Familie. Und seine Filme vermag man nun als eine Art Ausgleich zu sehen: In ihnen kommt die Familie zuerst.

Dass die Eltern sich trennten, dafür konnte er nichts. Aber er hielt sich den Trennungsschmerz mit der Kamera auf Distanz. Als in «The Fabelmans» die Scheidung unausweichlich wird, sitzt Sammy am Schneidetisch. Er bastelt an einem Film für seine Schule. Wie er sich in diesem Moment so etwas Unwichtigem widmen könne, fragt verständnislos die Schwester. Sammy zuckt nur mit den Schultern, er sei eben anders. Er ist meschugge nach der Kunst.

Jüdischer geht’s kaum

«The Fabelmans» ist kein hartes Scheidungsdrama. Man mag den Film für leicht bekömmlich halten, er drückt dem Zuschauer nichts allzu Unangenehmes auf. Doch ist er in seiner Abkehr vom Primat der Familie für Spielberg geradezu radikal. Richard Brody, einer der meinungsführenden amerikanischen Kritiker, hat Spielberg im «New Yorker» «mythmaking» vorgeworfen, der Regisseur arbeite an seinem eigenen geschönten Mythos. Nichts ist falscher als das. Spielberg dekonstruiert seinen Mythos.

Brody bemängelt auch eine allzu vage historische und politische Verankerung des Films, ausserdem komme die jüdische Identität der Fabelman-Familie zu wenig zur Geltung. Aber was erwartet er? Dass der Siebenjährige «Schindler’s List» dreht?

Beim Familienessen ist das Challah-Brot jedenfalls perfekt bildmittig platziert, dazu gibt es, typisch aschkenasisch, russischen Salat (Spielberg hat russisch-ukrainische Wurzeln), und die Schwiegermutter schimpft wegen des Plastikgeschirrs. Offenbar ist sie frömmer und stört sich daran, dass Mitzi kein koscheres Geschirr-Set hat. Jüdischer geht’s kaum. Und politisch ist auch alles verortet: «Spart man sich das Silberbesteck für den Besuch der Eisenhowers auf?», fragt die Schwiegermutter.

Spielberg lässt das Politische beiläufig mitschwingen. Auch den Antisemitismus: Der Filmemacher blendet ihn nicht aus, aber er lässt sich davon nicht die Geschichte diktieren. Darin zeigt sich die Altersweisheit des 76-Jährigen.

Wenn nun Richard Brody ausserdem fragt, wo denn die Schwarzen oder die Lateinamerikaner in diesem Arizona oder Kalifornien aus Spielbergs Kindheit geblieben seien, dann sagt das mehr aus über den Kritiker als über den Filmemacher. Reicht es nicht, von der jüdischen Minderheit zu erzählen? Erliegt Brody dem bedenklichen Fehlschluss, im Antisemitismus keinen Rassismus zu erkennen?

So wird nun Spielberg als alter weisser Mann dargestellt, der den Zug der Zeit verpasst hat. Hätte er aber seine Mitschüler zur Hälfte mit Schwarzen besetzen sollen, auch wenn sie das nicht waren? Würde damit nicht einfach ein soziales Problem durch das Casting kaschiert?

Spielberg macht sich die Vergangenheit nicht diverser, als er sie in Erinnerung hat. Er verweigert sich einer forcierten Zeitgeistigkeit und bläst seine persönliche Geschichte nicht zum sozialrealistischen Problemkino auf. Das macht diesen Regisseur aus, und es unterscheidet ihn von so vielen jüngeren Filmemachern, die in ihrem Bestreben, das «Richtige» zu erzählen, nicht mehr wissen, wie man gut erzählt.

Das Kino braucht wieder mehr Steven Spielbergs. Damit es einem auch als Erwachsener nicht wie ein Ort erscheint, vor dem man sich ängstigen muss.

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